Erasmus von Rotterdam
„Was in der Natur liegt,
gilt nicht als Verdienst.“
Hinter der knapp über fünf Jahrhunderte alten Aussage steckt eine Provokation, die aktueller nicht sein könnte. Mein Beitrag besteht also nur darin, diese Provokation mit den Worten des Erasmus von Rotterdam verdichtet und bis auf wenige Zitate sprachlich aktualisiert zu haben.
„Was in der Natur liegt, gilt nicht als Verdienst“ – Jede Begabung taugt erst, wenn sie auch genutzt wird. Das ist an die Eltern adressiert, die dafür verantwortlich sind. Sie müssen ihren Kindern dazu verhelfen, die eigenen schöpferischen Fähigkeiten nicht nur zu entdecken, sondern auch spielerisch umzusetzen. Für Eltern ist das kein Kinderspiel, aber deren Kinder müssen es dafür halten, weil sie dabei nur positive Zuwendung erfahren. Fehlverhalten der Kinder dagegen ist eine Folge erzieherischer Mängel oder liebloser Ungeduld.
Wie alle Lebewesen muss der Mensch das Leben erst lernen. Aber im Gegensatz zu den Tieren ist er nicht zum Überleben geboren. Dazu sind seine Instinkte zu schlecht ausgestattet. Der Mensch braucht den Verstand zum Überleben. Er ist auf Erziehung angewiesen.
Aber die Eltern müssen ihren Kindern erst einmal nach und nach den natürlichen Umgang mit dem eigenen Körper zeigen. Sie müssen ihre Kinder frühzeitig über Perversionen aufklären, die einem natürlichen Umgang mit dem eigenen Körper widersprechen.
Erasmus von Rotterdam hat eine Aufklärungsschrift für Kinder abgefasst, die später verboten wurde, weil sie selbst den Erwachsenen zu hart erschien. Und das in einer Zeit, in der der Umgang mit dem eigenen Körper völlig ungezwungen war wie beispielsweise der Umgang mit der Nacktheit.
Ein natürliches Verhältnis zum eigenen Körper kann der Mensch nicht von heute auf morgen erreichen. „In einem langjährigen Lernprozess muss er sich Formen richtigen Körpergebrauchs aneignen, um seine naturtriebhaften Bedürfnisse zugunsten gesellschaftlich geforderten Verhaltens zurückzuhalten.“ Man kann nicht alles machen, wozu man gerade Lust hat.
Also muss man lernen, seine Affekte und Emotionen zu beherrschen. Werden Kinder nicht erzogen, dann leben sie sich nach ihren Trieben und Bedürfnisse aus und finden in ihrer Zügellosigkeit keine Maßstäbe, um sich vernünftig verhalten zu können. Erziehen bedeutet zunächst, gute Umgangsformen zu vermitteln, damit sich Kinder gekonnt mitteilen können. Das bezieht sich vor allem auch auf den Umgang mit der Sprache, von der die Entwicklung der Vernunft unmittelbar abhängt.
Jedoch darf sich die Vernunft nicht ohne Rücksicht auf körperliche Bedürfnisse verselbständigen. Natur und Vernunft müssen an jeder Entscheidung gleichberechtigt beteiligt sein.
Erasmus von Rotterdam hält nichts von Unterdrückung eigener Bedürfnisse und Gefühle, solange sie nicht gegen gesellschaftliche Regeln verstoßen oder anderen schaden. Wichtig ist, dass sich Körper und Seele immer im Einklang befinden, das seelische Gleichgewicht gewahrt bleibt. Das setzt die Bildung des Charakters ebenso voraus wie die Bildung des Verstandes. Der Charakter kann sich nur entwickeln, indem der Verstand die Maßstäbe des Verhaltens sauber definiert, also Werte und Normen, Regeln und Gesetze, Gebote und Verbote, aber auch die Verträglichkeit eigener Entscheidungen mit der eigenen Natur.
Entscheidungsfreiheit kann sich aber erst dann ausprägen, wenn Eltern ihre Kinder erziehen, indem sie ihre eigenen Interessen möglichst heraushalten. Kinder müssen unabhängig von jeder Autorität vernünftig entscheiden lernen. Selbst Fragen des Glaubens sollen allein vom eigenen Gewissen beantwortet werden. Überkommene Vorbilder und Ideale sollen einer kritischen Prüfung unterzogen werden.
Geschieht die Ausbildung des Verstandes nicht, bleibt der Mensch ungebildet, die Vernunft kann die eigenen Handlungen nicht steuern, und es entwickeln sich „Untiere“.
„Die Natur gibt dir ein Stück Land zu eigen, das zwar noch unbebaut ist, aber einen guten Boden hat; du aber lässest es aus Sorglosigkeit von Disteln und Dornen überwuchern, die in der Folge bei allem Fleiße kaum wieder auszurotten sind. In dem unscheinbaren Samenkorn, welch mächtiger Baum ist darin verborgen, was für Früchte wird er tragen, wenn er groß geworden! Dieser ganze Erfolg aber wird zunichte, wenn du den Samen nicht in die Erde senkst; wenn du das zarte aufsprießende Keimchen nicht sorgfältig hütest; wenn du es nicht durch Pfropfen gewissermaßen zähmest. Und bei der Veredlung der Pflanzen bist du wachsam, bei der deines Sohnes aber schläfst du.“ („Über die Notwendigkeit einer frühzeitigen allgemeinen Charakter- und Geistesbildung der Kinder“,1529)
Kinder können noch alles lernen, wenn es ihnen nur rechtzeitig beigebracht wird. Die Erziehenden können sich da nicht ihrer Verantwortung entledigen. „Der hat seinen Sohn wenig lieb, den es verdrießt, ihn zu unterrichten.“ Erasmus von Rotterdam wendet sich ausdrücklich gegen jede autoritäre Pädagogik, weil sie Kinder „fast wie Hampelmänner“ behandelt.
Zum Vatersein reicht die Zeugung des Kindes nicht aus, zum Muttersein nicht das Gebären. Zum Vater und zur Mutter wird der Mensch, indem er seine Kinder auf eine lebenswerte Zukunft hin erzieht. Die Ausrede, dafür keine Zeit zu haben, zieht bei Erasmus nicht. Sie dürfen ihre Zeit nur nicht mit „allerlei Torheiten verplempern“.
Eltern müssen sich vor allem in Geduld üben, wenn ihnen die Lernfortschritte ihrer Kinder zu gering erscheinen. „Körnchen zu Körnchen fleißig hinzugefügt, macht bald einen großen Haufen aus.“ (ebd.) Nicht körperliche Bestrafung oder ständiges Schimpfen sind hilfreich, sondern Liebe und Lob. Das gelingt nur, indem sich Erzieher in die Situation des Kindes einfühlen. Aber Eltern, die ihren Kindern zu wenig Zeit schenken, sollten sich lieber „Affen und Schoßhündchen“ halten.
„Was in der Natur liegt, gilt nicht als Verdienst“ – der Mensch muss nutzen, was ihm die Natur an Möglichkeiten schenkt. Dieses Geschenk beinhaltet seine natürliche Freiheit und definiert den freien Willen, was er aus diesem Geschenk für sein Leben macht. Der Mensch muss lernen, sein Verhalten im Einklang mit seinen Bedürfnissen vernünftig zu begründen.
Wolfgang F. Schmid
wfschmid - 30. Dez, 13:36
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